«Das Blumenstehlen, es ist mein kleinstes Laster und meine grösste Freude, ich weiss, dass ich es nie aufgeben werde, ich bin süchtig danach; das wäre eine schöne Berufsbezeichnung: Blumendiebin, oder eine schöne Schlagzeile: Blumendiebin endlich gefasst, nach eingehenden Ermittlungen ist es der Polizei gelungen ..., aber das wird nie passieren, es stehen andere Dinge in der Zeitung, Fleischskandale und Äh-ich-äh-äh-Äusserungen von Politikern zum Krieg, irgendeinem, irgendwo.» Endlich kann ich dieses Buch Karin Ivancsics bestellen, ohne dass der Hinweis «vergriffen» erscheint. Dieses Buch, von dem ich bisher nur Fragmente zu lesen bekam, und das mich so gwunderig macht. Jetzt sind die «Aufzeichnunegn einer Blumendiebin» wohl neu aufgelegt worden.
Die Welt um mich herum öffnet sich wieder. Die Menge ist zurück mit auffallender Intensität. Es ist laut, bunt, ungehemmt und optimistisch. Es herrscht Nachholbedarf. Und trotzdem hält mich etwas zurück, mich der Menge mit Nachdruck anzuschliessen und mitzusingen. Ich müsste vielleicht den Staubsauger hervornehmen und die Pandemiekrümel wegmachen, die noch überall herumliegen – diese Staubsschicht, die uns daran mahnt, wie leicht und schnell wir alles verlieren könnten. Oder ich könnte die Perspektive ändern, in die uns diese Krise seit zwei Jahren gezwungen hat, die Sicht von innen nach aussen richten und neues Vertrauen fassen.
Ich lese in einem Artikel über die Theorie des deutschen Virologen Christian Drosten, welche von der möglichen Übertragung des Coronavirus' auf den Menschen handelt. Laut Drosten werden Marderhunde in China noch immer im grossen Stil für die Pelzproduktion verwendet. Unter den Tieren in den Zuchtbetrieben befänden sich auch wilde Exemplare, welche auch gern Fledermäuse essen würden. Und Fledermäuse wiederum gelten als wahrscheinlichster Ursprung des Coronavirus'. Auf den Pelzfarmen würde den Tieren offenbar bei lebendigem Leibe das Fell abgezogen – ihre Todesschreie setzten Aerosole in die Luft ab und die könnten so eine Übertragung des Virus' auf den Menschen ermöglichen. Und nun frage ich mich, was das alles über die Menschen aussagt und warum wir uns wundern, dass es diese Pandemie gibt.
In Israel fand ein Konzert von Popsänger Ivri Lider mit hunderten von Zuschauern statt. In einem Stadion, das Platz bietet für 30'000. Das erste Open-Air-Konzert mit Fans seit langer langer Zeit. Die Zuschauer waren alle gegen Covid-19 geimpft, trugen Masken, aber tanzten ausgelassen, ohne Abstand und zusammengepfercht in nur einigen Blöcken vor der aufgestellten Bühne. Eine Konzertbesucherin sagte im TV, wie cool dieses Erlebnis gewesen sei. Sie hoffe, dass das der Beginn einer Zeit sei, «in der wir zu unserem normalen Leben zurückkehren und wieder feiern können». Für Israel ist dieses Event ein Marketing-Coup. Die Impfkampagne ist offenbar erfolgreich. Schon mehr als die Hälfte der neun Millionen Einwohner haben bereits beide Dosen des Corona-Impfstoffs von Biontech/Pfizer erhalten. Sich als Impf-Weltmeister der Welt zu präsentieren kann dem umstrittenen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und seiner Partei vor der vierten Parlamentswahl innerhalb von zwei Jahren bestimmt nicht schaden. Israel stösst mit der Organisation dieses Konzerts die Türe zur vermeintlichen Rückkehr zur Normalität weit auf. Die Hoffnungen der Menschen schiessen in den Himmel. Es ist offensichtlich, dass niemand mehr warten kann, bis es wieder genau so weiter geht, wie es vor der Pandemie war. Wer will sich bei diesen Aussichten denn noch besinnen und neu orientieren?
Ein Zitat gefunden von Theodor W. Adorno aus seinen Studien zum autoritären Charakter: «Alle mordernen faschistischen Bewegungen, einschliesslich der Praktiken der gegenwärtigen amerikanischen Demagogen, haben es auf die Unwissenden abgesehen; sie stutzen die Tatsachen bewusst in einer Weise zurecht, die nur zu denen zum Erfolg führt, welche mit ihnen nicht vertraut sind. Die Unkenntnis der heutigen komplexen Gesellschaft führt zu einem Zustand von allgemeiner Unsicherheit und Unruhe, der den idealen Nährboden für reaktionäre Massenbewegungen modernen Typs abgibt. Solche Bewegungen sind immer 'völkisch' und hämisch anti-intellektuell.» Ein Zitat von heute? Nein, Adorno schrieb es 1950, siebenundsechzig Jahre bevor Trump Präsident wurde.
«To be prepared» ist der Satz, das Lebensmotto, aus dem der Name «Prepper» entstanden ist. Die «Prepper»-Bewegung entstand, so lese ich nach, in den Siebzigern. Jetzt, durch die Pandemie, die Umweltzerstörung, die akuten Existenzängste, hat dieser Begriff offensichtlich wieder Konjunktur. «Prepper» horten Vorräte, bauen Bunker oder legen sich Waffenarsenale zu, um bereit zu sein, wenn eine Katastrophe eintritt. Im Netz findet man Angebote, viele Angebote: 72-Stunden-Paket mit Notkocher für 89 Franken. Prepperkit mit Gasmaske, Trockennahrung und Sackmesser für 399 Franken. Konservendosen, Klopapier, Nudeln, Wasserkanister, Pistolenkugeln, Bohnen, Verbandszeug, Medikamente, Öle... «Prepper» schmieden Pläne für das Überleben nach dem Zusammenbruch der Zivilisation. Beugen damit einer postapokalyptischen Depression vor. Vor mir an der Coop-Kasse stehen eine Frau und ein Mann in der Reihe, sie scheinen ein junges Paar zu sein. Er hat seine Hand um ihre Schulter gelegt, sie schaut die aufgereihten Magazine an: «GNTM-Star Vanessa Tamkan zeigt ihren schönen Babybauch». Der Einkaufswagen ist bis über den Rand gefüllt. Reine Mutmassung von mir, dass die Beiden zur Gruppe der «Prepper» gehören. Ich verlagere das Gewicht vom linken Fuss auf den rechten, drücke mit Daumen und Zeigefinger den feinen Draht der Corona-Maske an die Nase und warte. Draussen wird es bereits dunkler. Ich sehne mich nach frischer Luft.
Es regnet, der schöne Schnee verwandelt sich in Pflotsch. Ziemlich grau das Ganze, passend zur Stimmung. Schade um die ungewohnte Pracht. Ich habe ein bisschen Rückenschmerzen. Die beiden Leinwände, die ich als ein zusammenhängendes Bild bemale, musste ich auf den Boden legen, weil sie zusammen so gross sind, was die Übersicht und die Erreichbarkeit erschwert. Das macht das Werken zu einer Art Fitnesskellertraining. Aber es muss sein. Irgendwo muss das doch alles raus, es wäre sonst nicht auszuhalten. Und es ist interessant, wenn der Untergrund Formen annimmt und Farben und Wucht und Bewegung und zur Hoffnung führt, dass man irgendwann das Ergebnis betrachtet an einer Wand und bloss noch ein Bild sieht, sich gut fühlt und es nicht mehr wichtig ist, aus welchem schlimmen Durcheinander es entstanden ist.
Erstaunlich, wie man in dunkelster Stunde, wenn man dringendst gebraucht wird, angesichts des Schlimmsten, was einem passieren könnte, emotional durchgeschüttelt, übermüdet, hoffnungslos, verzweifelt, verstört, ratlos, aufgewühlt, allein in einen Tunnel fährt, den Gang umgelegt bekommt, das vermeintlich einzig Richtige tut, fokussiert ist plötzlich, hochkonzentriert, hellwach mitten in der Nacht, emotional stabil, mutig, kräftig, vernünftig, kein Detail ausser Acht lassend, das Ziel und den Weg glasklar und tränenfrei vor Augen hat, wie man plötzlich funktioniert, als hätte man unmenschliche Kräfte, als wäre man gesteuert von einem Etwas, das es gut meint.
Tag der Inauguration von Joe Biden und Kamala Harris, des neuen US-Präsidenten und seiner Vizepräsidentin. Ein historischer Tag, eine würdige Feier, über der wie eine dunkle drohende Wolke die
vier Trumpjahre schwebten, die an der Feier im anwesenden, abtretenden Vizepräsidenten Pence ein Gesicht hatten, ein regungsloses Maskengesicht, wenigstens bemüht um einen letzten Funken Anstand
und Haltung. Aus den unterhaltsamen teils bewegenden Auftritten der Rednerinnen und Rednern und der Sängerinnen Lady Gaga und Jennifer Lopez und dem Sänger Garth Brooks, stach eine 22-jährige
Lyrikerin heraus, von der ich vorher noch nie etwas gehört hatte, deren poetisch-eindringliche Rede ich umso mehr hier festhalten will. Ich übergebe das Wort an Amanda Gorman, Harvard-Absolventin
aus Los Angeles.
The Hill We Climb
«Wenn es Tag wird, fragen wir uns,
wo wir Licht zu finden vermögen in diesem niemals endenden Schatten?
Den Verlust, den wir tragen,
ein Meer, das wir durchwaten müssen.
Wir haben dem Bauch der Bestie getrotzt.
Wir haben gelernt, dass Ruhe nicht immer Frieden bedeutet.
Und dass die Normen und Vorstellungen von dem, was gerade ist,
nicht immer Gerechtigkeit sind.
Und doch gehört die Morgendämmerung uns,
noch ehe wir es wussten.
Irgendwie schaffen wir es.
Irgendwie haben wir es überstanden und bezeugten
eine Nation, die nicht kaputt ist,
sondern einfach unvollendet.
Wir, die Nachfahren eines Landes und einer Zeit,
in der ein dünnes, schwarzes Mädchen,
das von Sklaven abstammt und von einer alleinerziehenden Mutter grossgezogen wurde,
davon träumen kann, Präsidentin zu werden,
nur um sich selbst in einer Situation zu finden, in der sie für einen vorträgt.
Und ja, wir sind alles andere als lupenrein,
alles andere als makellos,
aber das bedeutet nicht, dass wir danach streben,
eine Gemeinschaft zu bilden, die perfekt ist.
Wir streben danach, gezielt eine Gemeinschaft zu schmieden.
Ein Land zu bilden, das sich allen Kulturen, Farben, Charakteren und menschlichen Lebensverhältnissen verpflichtet fühlt.
Und so erheben wir unseren Blick nicht auf das, was zwischen uns steht,
sondern auf das, was vor uns steht.
Wir schliessen die Kluft, weil wir wissen, dass wir, um unsere Zukunft an erste Stelle zu setzen,
zuerst unsere Unterschiede beiseitelegen müssen.
Wir legen unsere Waffen nieder,
damit wir unsere Arme
nacheinander ausstrecken können.
Wir wollen Schaden für keinen und Harmonie für alle.
Lasst die Welt, wenn sonst auch nichts, sagen, dass dies wahr ist:
Dass wir, selbst als wir trauerten, wuchsen
Dass wir, selbst als wir Schmerzen litten, hofften
Dass wir, selbst als wir ermüdeten, es weiter versucht haben
Dass wir für immer verbunden sein werden, siegreich
Nicht weil wir nie wieder eine Niederlage erleben werden,
sondern weil wir nie wieder Spaltung säen werden.
Die Heilige Schrift sagt uns, dass wir uns vorstellen sollen,
dass jeder unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzen soll
und keiner ihnen Angst machen soll.
Falls wir unserer eigenen Zeit gerecht werden sollen,
dann wird der Sieg nicht in der Klinge liegen,
sondern in all den Brücken, die wir gebaut haben.
Das ist das Versprechen:
Der Hügel, den wir erklimmen,
wenn wir es nur wagen,
denn Amerikaner zu sein, ist mehr als ein Stolz, den wir erben,
es ist die Vergangenheit, in die wir treten,
und die Art, wie wir sie reparieren.
Wir haben eine Macht gesehen, die unsere Nation eher zerschlagen würde,
als sie zu teilen,
die unser Land zerstören würde, wenn es dazu führe, Demokratie zu verzögern.
Und dieser Versuch war fast erfolgreich.
Doch auch wenn Demokratie von Zeit zu Zeit verzögert werden kann,
kann sie niemals dauerhaft besiegt werden.
In diese Wahrheit,
in diesen Glauben, vertrauen wir.
Denn obwohl wir unsere Augen auf die Zukunft richten,
die Geschichte hat ihre Augen auf uns gerichtet.
Dies ist die Ära gerechter Wiedergutmachung.
Wir fürchteten zu Beginn,
wir fühlten uns nicht bereit,
Erben einer solch schrecklichen Stunde zu sein,
doch in ihr fanden wir die Kraft
ein neues Kapitel zu schreiben,
uns selbst Hoffnung und Lachen zu schenken.
Also während wir uns einst fragten,
wie wir jemals diese Katastrophe überstehen könnten,
stellen wir jetzt fest:
Wie könnte eine Katastrophe jemals uns überstehen.
Wir werden nicht zurück zu dem marschieren, was war,
sondern uns auf das zu bewegen, was sein wird.
Ein Land, das zwar verletzt, aber dennoch intakt ist,
gütig, aber kühn,
kämpferisch und frei.
Wir werden uns nicht umdrehen
oder durch Einschüchterung unterbrechen lassen,
weil wir wissen, dass unsere Untätigkeit und Trägheit
unser Erbe für die nächste Generation sein wird.
Unsere groben Fehler werden zu ihren Lasten.
Aber eines ist sicher:
Wenn wir Barmherzigkeit mit Macht verschmelzen
und Macht mit Recht,
dann wird Liebe unser Vermächtnis
und Veränderung das Geburtsrecht unserer Kinder.
Also lasst uns ein Land hinterlassen,
das besser ist als das, welches uns hinterlassen wurde.
Mit jedem Atemzug aus meiner bronzegegossenen Brust
werden wir diese verwundete Welt in eine wundersame verwandeln.
Wir werden uns von den goldbeschienenen Hügeln des Westens erheben,
wir werden uns aus dem windgepeitschten Nordosten erheben,
in dem unsere Vorfahren zum ersten Mal die Revolution verwirklichten,
wir werden uns aus den von Seen gesäumten Städten des Mittleren Westens erheben,
wir werden uns aus dem sonnengebrannten Süden erheben,
wir werden wieder aufbauen, uns versöhnen und erholen,
und jeden bekannten Winkel unserer Nation und
jede Ecke, die unser Landes genannt wird.
Unser Volk, vielfältig und schön, wird aufstreben,
zerschunden und schön.
Wenn der Tag kommt, treten wir aus dem Schatten heraus,
entflammt und ohne Angst.
Die neue Morgendämmerung erblüht, wenn wir sie befreien.
Denn es gibt immer Licht,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sehen,
wenn wir nur mutig genug sind, es zu sein.»
Er ist immer noch wunderschön, der Wintertraum in Silvaplana, wenn auch ganz anders in diesem Jahr. Ein Auf und Ab: Eingezwängt in der kleinen Wohnung und befreit auf der weiten, praktisch menschenleeren, weissen Fläche der Seen beschleicht einem ein distopisches Gefühl. Es kriecht durch das Zwerchfell. Als wäre man am Ende des Katastrophenfilms einer der letzten Überlebenden. Verschwunden die sonst übliche Geselligkeit. Kein Kommunizieren, kein Lachen, kein Schweben, bloss Vorsicht. Als hätte die Musik ausgesetzt und alle wären augenblicklich von der Tanzfläche verschwunden. Aus der nahen Stadt kommen Meldungen über mutierte Viren. Zwei Luxustempel schliessen die Türen und ihre Gäste ein. Vor dem kleinen Lebensmittelgeschäft nehme ich kurz meine Maske von Nase und Mund, ich brauche Luft, werde aber unverzüglich von der Polizistin aufgefordert, die Maske wieder hochzuziehen. Ich folge und seufze. Sofort beschlägt der Atem die Sonnenbrille und nimmt mir die Sicht auf den Corvatsch, diesen urchigen Berg, der scheinbar allem trotzt, egal, was da kommen möge.
Es stellen sich Fragen: «So sind wir nicht!» – was aber, wenn wir doch so sind? Ist Hassposten heilbar? Werden wir im Sommer wieder verreisen? Wer erzählt den spannendsten Erlebnixbericht? Werden wir die Masken je wieder ablegen? Macht das Leben ohne Kultur Spass? Must the show go online? Wieviele werden übrigbleiben? Wann wird es endlich wieder, wie es nie war? Wie sind wir? Wie werden wir werden? Werden wir in der Krise gemeinsamen? Wann können wir wieder planen? Wann auf etwas plangen? Gibt es sie noch, die Nicht-Virologen? Garnieren Spitzenverdiener jetzt weniger? Werden wir mutieren? What becomes of the brokenhearted?
Bemerkenswert, wie sich einige Trump-Verbündete plötzlich auf die Strasse nach Damaskus absetzen und sich empört vom Mann distanzieren, dem sie vier Jahre lang blind gefolgt und in den Allerwertesten gekrochen sind. Als käme dieses Desaster, das im Sturm des Kapitols gipfelte, völlig unerwartet. Rette die eigene Haut, wer kann.
Ich möchte diesem Narzi nicht zu viel Raum hier einräumen. Bin aber gespannt, ob er aus dieser Nummer straffrei herauskommt. Straffreiheit scheint für ihn selbstverständlich zu sein und war Merkmal seiner ganzen Zeit als Potus. In seiner Kampagne 2016 sagte er folgenden Satz: «Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschiessen und würde keinen Wähler verlieren.» Das hat er im übertragenen Sinn jetzt auch wahr gemacht.
Am dritten Tag des neuen Jahres passierte am Piccadilly Circus im Londoner West End Bemerkenswertes. Auf den riesigen, weltbekannten Werbebannern erschien die aus
Chicago stammende Lyrikerin und Sängerin Patti Smith und las ein kurzes Gedicht vor. Sie widmete es Greta Thunberg, zu deren 18. Geburtstag und rühmte die schwedische Klimaschutzaktivistin in der Einführung als einen ganz besonderen Menschen, der mit grossem Mut, grosser Überzeugung und grossen Taten für unser aller Überleben
einsteht. Gross auch der Auftritt von Patti mit einer schönen Geste und einer eindringlichen Botschaft, die ich versuche, hier festzuhalten. The Cup, der Titel des Gedichts, kann man wohl auf
unterschiedliche Weise übersetzen: es könnte «die Tasse» heissen, «der Kelch», oder «das Mass», das jetzt voll ist, oder auch ganz was anderes. Möglich also, dass ich nicht alles richtig
verstanden und übersetzt habe. Aber das macht nichts.
The Cup – A Supplication to Nature
«If we be blind, and we turn away from nature, the garden of the soul, she will turn on us. In place of songbird the shrill cry of the locust devouring the harvest, the terrible crackling of the
blazing rainforest. Peatlands smoldering, the seas rising, cathedrals flooding, the arctic shelf melting, the sibiriab wood burning, the barrier reef bleached as the bones of forgotten saints. If
we be blind, failing in our supplication to nature, species will die, bee and butterfly driven to extinction, all of nature nothing more than an empty husk, the unholy ghost of an abandoned
hive.»
«Wenn wir blind sind und uns von der Nature abwenden, dem Garten der Seele, wird sie sich gegen uns wenden. Anstelle von Singvögel der schrille Schrei der
Heuschrecke, welche die Ernte verschlingt. Das schreckliche Knacken des lodernden Regenwaldes, schwelende Moore, steigende Meeresspiegel, überflutete Kathedralen, das schmelzende Eis in der
Arktis, der brennende Wald in Sibirien, das Barrier Reef, gebleicht wie die Knochen vergessener Heiliger. Wenn wir blind sind, scheitern in unserer demütigen Anbetung der Erde, werden ganze Arten
ausgelöscht, Biene und Schmetterling zum Aussterben getrieben. Die ganze Natur nichts mehr als eine leere Schale, der unheilige Geist eines verlassenen Bienenstocks.»
Bei G ist es an Weihnachten passiert. Corona-Ausbruch in der Familie, sechs Haushalte betroffen. Vielleicht wäre Corona-Einbruch das treffendere Wort. Tests kann man in der Apotheke machen. Resultate liegen innert Minuten vor. Und jetzt? Isolation, Quarantäne, leichte Symptome und erstaunliche Gleichgültigkeit, immer noch. Mehr Ärger über die verlorene Zeit, über die zusätzlichen Einschränkungen, als Angst um mögliche weitere Folgen. Ich staune. Vielleicht nimmt man dem Drachen die Zähne, wenn man ihn als Kröte betrachtet. Jedenfalls drücke ich beide Daumen.
Während Trump Steuerhinterzieher und Betrüger begnadigt, begnadigt sich Putin gleich selber. Er hat ein Gesetz erschaffen, dass ihm und seiner Familie lebenslange Immunität vor Strafverfolgung verleiht. Er ist jetzt 68, er kann, auch das ein Gesetz, das er selber erschaffen hat, theoretisch bis 2036 im Amt bleiben. Und so lange er Präsident ist, geniesst er sowieso Immunität. 2036 wäre er 84 Jahre alt. Interessant am neuen Gesetz ist, dass die lebenslangene Immunität auch für Straftaten gilt, die nach dem Ausscheiden aus dem Amt verübt oder bekannt werden. Weder Polizei noch Staatsanwaltschaft darf Befragungen, Verhaftungen oder Hausdurchsuchungen durchführen.
Es kommt immer näher, man riecht es förmlich, man könnte es greifen, duckt sich lieber. Jetzt kennt jeder jemanden, den es erwischt hat, der irgendwo in Isolation sitzt und den Wänden des Zimmers Namen gibt oder schlimmer: auf Spitalbetten auf dem Bauch liegt. Viele ergreifen die Flucht, hauen ab mit dem Flugzeug, möglichst weit weg, völlig verzweifelt. Dahin, wo sie sicher sind. Auf die Insel, die es nicht gibt. L'isola che non c'è. «Seconda stella a destra, questo è il cammino. E poi dritto fino al mattino...»
Viele schimpfen über die Politiker, welche Massnahmen gegen die explodierenden Zahlen ergreifen müssen. Die einen schimpfen wegen den Einschränkungen, die sie der gewohnten und geliebten Freiheit berauben. Die anderen schimpfen wegen den Einschränkungen, weil diese ihnen nicht weit genug gehen. Tatsache ist, dass die Politiker und Wissenschaftler keinen leichten Job haben. Der Widerspruch ist kaum aufzulösen.Einerseits weiss man, dass der Lockdown bisher die einzig wirklich wirksame Waffe gegen das Virus ist, andererseits muss man einen solchen dringlichst verhindern, weil er die Unternehmen ruinieren, die Gesellschaft gefährden würde. Pleite oder Corona. Pest oder Cholera. Dann doch lieber dieser Drahtseilakt in stürmischer Höhe, ohne Balancestange und ungesichert.
Die Neuansteckungen haben sich seit Dienstag mehr als verdoppelt. Minütlich kommen neu Meldungen über bekannten Persönlichkeiten, die sich mit Corona angesteckt haben. Die Schockwirkung wird mit jedem Namen geringer, die Unruhe grösser. Die Worte der Politiker und Mediziner werden deutlicher, die verordneten Einschränkungen mehr. Wohin steuern wir? Wer steuert uns?
Im Zug setzt sich mir ein junger Mann schräg gegenüber, ein Inder vielleicht oder ein Pakistani. Es ist zwanzig Minuten vor sechs am Morgen. Bevor der Zug die Türen schliesst und losfährt, greift er zum Mobiltelefon und beginnt sehr laut zu reden. Er zieht es vierzig Minuten lang durch und holt dabei kaum Luft. Ein Schwall an Worten, eine Lawine, eine Orgie, eine Flut, die jeden ertränkt, der sich nicht mit Kopfhörer und Musik davor schützen kann, brutal und gnadenlos. Keine Chance, sich langsam in den Tag zu ruckeln, sich aus den Träumen zu schälen. Eine Qual, die meine Gesichtsmuskulatur unter der Maske zusammenziehen lässt. Man sieht sie nicht meine Fratze, die ich schneide, bis sie messerscharf ist.
Der Silvaplanersee im Oberengadin leuchtet mintblau. Starker Wind legt sich in die Plastiksegel der Surfer. Es scheinen aber schwierige Bedingungen zu herrschen. Die Kitesurfer verzichten, nur ein Wagemutiger fliegt durch die Luft und jauchzt. Später steigt er ab und an Land, er ist barfuss. Der See habe 15 bis 16 Grad, das sei kein Problem für ihn. Glück leuchtet aus seinen Augen. Auf dem Campingplatz beim Surfklub ist einiges los. Musik und ein Feld von Sportlerinnen und Sportlern, die meisten ebenfalls barfüssig, die ihre Bretter vor den Zelten lagern, zusammensitzen, lachen, von Abenteuern erzählen. Sie sind braungebrannt, tragen von der Sonne gebleichte Haare, schauen immer wieder zum Himmel. Vielleicht, um abzuschätzen, wie schnell sich die Wolken bewegen. Vor den Zelten hängen Neoprenanzüge an Bügeln, durch die Zeltöffnungen sieht man Kleider, Schuhe und Küchengeräte herumliegen. Chaos wird hier geschätzt.
Der vielleicht letzte so wunderbare, warme Sommerabend. Eine Hochzeitsparty an einem magischen Ort, der früheren Frauenbadi in Baden an einer hellblauen Bucht an der Limmat. Junge Leute in Ihrer Lebensblüte, die alles oder vieles noch vor sich haben. Es gibt Musik, Essen, Tanz, Glück, Adrenalin. Es ist schön, die Jungen so feiern zu sehen. So viele Türen, die meisten noch offen. Je älter wir werden, desto weniger Türen gibts. Es ist wie eine Pyramide, an dessen Spitze es nur noch eine Türe gibt.
Schockierende Fotos aus Wuhan, dem mutmasslichen Ausgangsort des Coronavirus'. Über 15'000 Menschen feiern bei einem Musikfestival im Wasserpark, engstens aneinandergedrängt, ohne Social Distancing, ohne Masken. Wie ist das möglich? Sind wir alle lebensmüde? Oder haben es die Chinesen so gut im Griff, dass es kaum noch Ansteckungen gibt und diese Bilder dem rest der Welt zeigen, wieviel Normalität zurückgekehrt ist? Ist das Leichtsinn und Unvernunft, chinesische Propagande oder sind das Bilder der Hoffnung? Ich weiss nicht, was ich glauben soll. Dieses Virus macht mich noch verrückt.
In einem Interview im Bund äussert sich die Schweizer Autorin und Performerin Sandra Künzi über die Probleme, welche Corona der hiesigen Kulturszene aufgelden hat, und Künzi sagt, dass das Schlimmste erst noch kommt. Dass viele Festivals und Bühnen, die nicht subventioniert sind, also Teil der freien Szene sind, es nicht überleben werden. Dass der Bund die Kultur als nicht systemrelevant einstuft, dass ärgert besonders. «Mir geht das Wort systemrelevant sowas von auf den Wecker», kommentiert Künzi. «Relevant für welches System? Ein Wirtschaftssystem, in dem Gewinn das oberste Ziel ist? In dem Grossfirmen Kurzarbeitsentschädigung vom Staat beziehen und ihren Aktionären gleichzeitig Dividenden ausschütten?» Wir sind so tief in diesem System gefangen, dass wir uns nicht vorstellen wollen, wie wir daraus rauskommen könnten, aus lauter Angst vor Arbeitslosigkeit, Wirtschaftseinbruch, Geldentwertung, dem Ende der Komfortzone. Antworten darauf, Lösungsvorschläge, Bilder, Ideen? Findet man durch und in der Kultur.
Bin über ein Zitat gestolpert von Max Frisch: «Eine Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.» Das wird B gefallen.
Erst der starke Wind und das kurze Gewitter brachte etwas Ruhe in die Geburtstagsnacht. Zuvor ging es ziemlich wild zu und her, laut und bunt. Die Tiere im naheliegenden Wald heulten. Aber die Feier war wohl wichtig, um etwas Dampf abzulassen, der sich angestaut hatte über die letzten Monate. So wie das vorallem die Jungen immer öfter und wieder unverkrampfter machen seit einiger Zeit. O glaubt, wir würden auch ausbrechen wollen, wären wir noch jung. Er verstehe die Jugend. Mit so einer Situation müsse man zuerst mal umgehen können. Ich verstehe sie auch. Auch wenn B meint, ich sehe das alles zu pessimistisch. Wir sollten bei allem nicht vergessen, dass wir es hier gut haben und uns die Freundschaftspflege nicht durch dieses Virus vernachlässigen lassen. Jetzt erstrecht nicht. Das Wetter hat es sich für heute nochmal anders überlegt. Milder Sonnenschein, statt dem angesagten Regen. Aber es hat deutlich abgekühlt, die Temperaturen sind angenehmer, schlafen hoffentlich einfacher. Ein junger Mann haut sich frühmorgens auf dem Trottoir den Kopf an einem Baum an. Er war gerade daran, sich eine Zigarette zu drehen, tat sich aber schwer damit und war wohl zu sehr abgelenkt. Nun schwankt er gefährlich zwischen Strasse und Bord. Den schmalen Fussweg über die Rheinbrücke verpasst er beinahe. Offensichtlich nicht wegen dem Kopfstoss. Ich amüsiere mich. Erinnere mich an eigene Morgendanach-Zustände.
Die Zahlen steigen und steigen. Ich trage wieder Schutzmaske im Einkaufszentrum. Man belächelt mich. Oder bilde ich mir das bloss ein? Nur ganz wenige tragen eine Maske. Das obligatorische Desinfektionsmittel am Ein- und Ausgang wird ignoriert. Gelächter und Umarmungen. Die Fussballspieler knutschen sich beim Torjubel. Die Berner Fussballfans verstopfen die Strassen im Meistertaumel. Sie zünden die Nacht mit Pyros an. Das Rheinfall-Feuerwerk zum Nationalfeiertag fällt wegen Corona aus. In vielen Kantonen gilt zudem ein Feuerverbot wegen Waldbrandgefahr. Die Menschen haben sich trotzdem oder gerade deshalb wild mit Raketen eingedeckt. Sie wollen nicht auf alles verzichten müssen. Haben genug von Vorschriften, Verboten und Absagen. In Bulgarien feiern sie volle Kanne. Ohne Einschränkungen, ohne Sicherheitsbedenken, ohne Abstandsregeln, ohne Masken. Es gibt da kein Zurückhalten. Goldstrand nennt sich der Abschnitt am Schwarzen Meer – Slatni Pjasazi. Party, als gäbe es keinen Morgen, als gäbe es keinen Virus.
A erzählt von Kindern in Südafrika, welche wegen Corona ihre einzige Mahlzeit am Tag, die von Hilfswerken ausgegeben wurden, nicht mehr bekommen, weil die Anlaufstellen geschlossen bleiben müssen. Bald würden mehr Kinder an Unterernährung sterben, als an Corona. Darum müsse man auf diese Massnahmen verzichten, die weltweit gegen das Virus beschlossen wurden. Das sei pure Hysterie und kontraproduktiv und hätte grausame ökonomische Folgen. Man dürfe die Wirtschaftsentwicklung nicht mehr weiter gefährden. Dann müsse man halt Coronatote in Kauf nehmen. Mich schauderts und ich frage mich, warum das ein Entwederoder-Entscheid sein soll. Warum wir nicht solidarisch und kreativ genug sein können, uns gegen Corona zu schützen UND die Kinder vor dem Hungertod. Wo sind die Genies dieser Welt, die uns retten?
Es gibt in der Wissenschaft die Hypothese, dass die notwendigen organischen Moleküle des Lebens mit Meteoriten auf die Erde gekommen sind. Zuvor war die Erde ein äusserst lebensfeindlicher Ort. Über Jahrmilliarden entwickelten sich Mikroben zu dem Leben, welches uns heute umgibt – unter anderem Insekten, Fische, Vögel, Säugetiere und den Menschen. Diese Entwicklung nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Wieviel Zeit es wohl braucht, um das alles zu zerstören? Der Mensch wäre dazu vielleicht in kürzester Zeit fähig. Er hat sich genug Waffen zugelegt, um alles auszulöschen. Ob er gerade gestoppt wird? Oder nur gebremst? Oder ist es bloss eine Warnung?
In der ZDF-Mediathek haben wir eine Thriller-Serie gefunden. Es geht um die Nordsee-Insel Sløborn, deren Bewohner plötzlich einem tödlichen Virus ausgesetzt sind. Die Staffel wurde im Herbst 2019 gedreht, als Corona noch kein Thema war. Umso unglaublicher die Parallelen: die Unvernunft, die Ignoranz, die Verharmlosung, die wirtschaftlichen und politischen Interessen, die Vorschriften und Massnahmen, die Verbote, die Panik, die Vertuschung, die Machtlosigkeit, der Todeskampf, die Jagd nach einem Impfstoff... Wirklichkeit und Fiktion vermischen sich. Man kann am Ende nicht den Fernseher abschalten und die Geschichte ist fertig und alles wieder gut. Sie krallt sich vielmehr in jede Pore, in jeden Gedanken, in jede Angst und Befürchtung.
«Please allow me to introduce myself. I'm a man of wealth and taste...» So beginnt der Stones-Hit «Sympathie for the Devil», dem ich vor vielen Jahren erstmals begegnet
bin. Huuuuuh huuuuu. Das Bild, das ich mir dank dieses Songs vom Teufel machte, war das eines eleganten Luzifers, der über die Gewalttätigkeit der Menschen sinniert und aus der Hölle kommt, um
auf Erden ein fröhliches Chaos anzurichten. Vor diesem Teufel musste ich mich nicht fürchten. Wiederbegegnet bin ich einer ähnlichen Figur vor ein paar Monaten im Kultroman
«Meister und Margarita» von Michail Bulgakow. Eine aberwitzige, fantastische Geschichte, in welcher Teufel Woland zusammen mit einer Hexe, einem Killer und
einem Riesenkater Moskau auf den Kopf stellt, um einen verliebten Dichter im Irrenhaus zu beschützen. Dass «Sympathie for the Devil» eine flammende Hommage an «Meister
und Margarita» ist, ist mir heute erst klar geworden; dank eines zweiminütigen Cult-Fiction-Beitrags auf Arte. «Darf ich mich vorstellen. Ich bin ein Mann von Wohlstand und Geschmack...»
Läuft.
Weil das Konzert von Patti Smith verschoben wurde auf das nächste Jahr, stehe ich heute anstatt in der Arena in Wien in der Küche zu Hause. Und zum Trost überlege ich mir ein paar österreichische Ausdrücke aus der Küche. Der Paradeiser zum Beispiel, die Tomate. Das Wort ist so weit ich weiss von Paradiesapfel abgeleitet. Die Fisolen sind Bohnen, die Melanzani sind Auberginen und als Ananas bezeichnete man zumindest früher in Wien die Erdbeere. Ich habe heute Semmel gekauft und wenn sie hart sind, koche ich mein Lieblingsmenü: Semmelknödel nach Wienerart.