Apulien (Mai 2019)

Aussichten

Die Stadt ist weiss, la città bianca, die Strassen im Zentrum sind ausgelegt mit glänzenden Steinplatten. Steile, riesige Treppenstufen führen zu massiven Eingangstüren aus Holz, über denen Schilder hängen: Vendesi, zu verkaufen. Gebündelte Elektroleitungen hangeln sich über Kopf von Haus zu Haus. Sie sind weiss übermalt. Die kleinen, schmalen Balkone mit verspielten Mustern aus Eisen wirken wie kleine Aussichtspunkte, Orte der Sehnsucht mit Fernsicht, wie letzte Relikte aus besseren Zeiten. Bunte Plastikgirlanden schützen die abgedunkelten Wohnungen vor den stechenden Mücken. Kleine Grossmütter in schwarzen Kleidern aus filzigem Stoff sitzen auf Korbstühlen und beobachten von oben die Jungen auf der Strasse, wie sie kichern und turteln vor der Eisdiele auf der Piazza. Diese sorgenfreie Zeit, in der noch alles möglich scheint, sie vergeht im Nu. Bald steigen viele von ihnen am alten Bahnhof, wo das Unkraut aus dem Beton spriesst, in den Zug und suchen ihr Glück im Norden. So wie es die Grossväter schon taten, als diese noch jung und kräftig waren und vollbepackt mit Träumen. Jetzt sind sie alt und abgemagert, eingefallen und müde. Ein paar sind zurückgekommen, mit ein paar hartverdienten Scheinen in der Tasche. Sie rauchen vor den Bars und in den Parks, trinken Wein, spielen Karten. Und warten.

 

Flirt

Die Sonne bahnt sich ihren Weg, blinzelt zwischen hingemalten Wolkenstreifen, sie lockt und rockt, will spielen. Sie zeigt sich und verschwindet, sie kommt, sie geht, sie stirbt, sie lebt. Jeder hier kennt ihre Stärke, ihre Macht. Sie kann tiefe Risse in die rote Erde schneiden, kann tiefe Falten in Gesichter furchen, kann Haut verbrennen und Felder entflammen. Kann Strassen zerstören und  Blumen betören. Sie lässt Oleander am Rande der Schnellstrassen spriessen, sie macht Feigen blau, Zitronen gelb, Orangen süss. Wärmt die Herzen der Liebenden. Heilt die Schmerzen der Leidenden. Die Menschen besingen sie, beten sie an und fürchten sie. Bläht sie sich ernsthaft auf, flüchten sie in Massen an den Strand oder in gekühlte Konsumtempel ganze Wochenenden lang. Die Sonne gibt und nimmt nach Belieben. Noch ist es nur ein erster Flirt, ein Anfang, ein sanftes Aufwärmen für brandheisse Zeiten, eine blosse Spielerei im feuchtkühlen Mai.

 

Überschlag

Der Strand, an dem sich im August die Leiber scharen, ist noch ungeschminkt. Abfallmassen türmen sich. Lustlos überschlagen sich die Wellen. Es riecht nach Salz und Fischkadaver. Auf den Strassen staut das Regenwasser. Es bilden sich gefährliche, kleine Seen. Sie verdecken die Löcher im Asphalt, um die sich keiner kümmert. Am Strassenrand sind Kreuze angebracht, schmerzlich geschmückt mit Rosenkränzen und Kerzen, die den Toten noch etwas Leben geben. Doch die Dochte leider, sie sind nass vom strömenden Regen.

 

Hundeleben

Die Blätter der Olivenbäume, nicht wiederzuerkennen, sträuben sich gegen den Wind. Sie mögen nicht tanzen, nicht silberschimmern. Sie haben kalt.

Die Bise pfeift. Der Regen fällt aus trübem Grau. Der Köter wehklagt bitter. Er führt ein Hundeleben hinter Gitter. Eingesperrt auf vier mal zwei Meter, viereckt er wie ein Tiger, pratzt er über Kot und Stein, keine Aussicht, keine Gnade, ganz allein.