Interview mit Extremsportler Mike Horn


Die Kälte: Mike Horn mit der abgerissenen Haut an der Nasenspitze, ich dick eingepackt. Ein Foto aus Pelly Bay im Norden Kanadas.
Die Kälte: Mike Horn mit der abgerissenen Haut an der Nasenspitze, ich dick eingepackt. Ein Foto aus Pelly Bay im Norden Kanadas.

«Grossartig, überlebt zu haben»

Abenteurer Mike Horn umrundete in 27 Monaten die Welt entlang des nördlichen Polarkreises. Er war gut vorbereitet und wusste dennoch nicht genug. Die Extremleistung bestand er nur dank seiner mentalen Stärke. Dass einem andern dieses Abenteuer gelingt, kann er sich nicht vorstellen.

Facts: Mike Horn, Sie haben die Welt entlang des nördlichen Polarkreises umrundet - ohne motorisierte Hilfsmittel: zu Fuss, auf Ski, per Kanu oder Segelschiff. Sind Sie jetzt am Ziel Ihrer Träume angelangt?

Mike Horn: Ich bin froh, dass ich heil am Nordkap zurück bin, wo ich im August 2002 zu meiner Reise aufbrach. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, ich mag nicht mehr kämpfen. Aber ich bin auch traurig, dass das Abenteuer jetzt zu Ende ist. Ich habe mich an das Leben im Norden gewöhnt, an die Einsamkeit, an mein kleines Zelt, meinen Gaskocher, meinen Schlitten.

Sie kämpften gegen Temperaturen bis zu minus sechzig Grad ; wie kann sich ein Mensch an diese Kälte gewöhnen?

Es gab auch warme Momente. Als ich nach den beiden arktischen Wintern wieder die Sonne sah. Als ich nach Monaten der Dunkelheit und Einsamkeit wieder Menschen begegnete. Da wurde es mir richtig warm ums Herz.

Haben Sie gefunden, wonach Sie suchten?

Ich bin aufgebrochen, um mein Wissen zu vergrössern, wollte meine eigenen Kräfte und die der Natur besser kennenlernen. Körperlich ist diese Weltumrundung für viele machbar, es gibt stärkere Menschen als mich. Doch mental war sie eine riesige Herausforderung. Ich könnte dieses Abenteuer nicht noch einmal machen und kann mir nicht vorstellen, dass es jemand anderes kann. Das ist nicht wiederholbar.

Welches war die grösste Belastung?

Der ständige Kampf ums Überleben. Zuletzt kämpfte ich auf der Barentssee gegen einen fürchterlichen Sturm, der mein Schiff kaputtschlug. Ich habe drei Tage und drei Nächte lang ununterbrochen versucht, das Boot und mich zu retten. Ich hätte die Kraft nicht aufbringen können, wäre ich nicht so nah am Ziel gewesen. Als ich aufbrach, glaubte ich, genug zu wissen, um die Reise antreten zu können. Jetzt weiss ich, dass ich nicht genug wusste. Die Natur hat eine unvorstellbare Kraft und Faszination. Im Vergleich zur Naturgewalt sind wir Menschen klein und unbedeutend.

Warum nur haben Sie sich in dieses gewaltige Abenteuer gestürzt?

Leben bedeutet für mich vorwärtskommen. Abenteurer sein ist mein Beruf und meine Befriedigung. Ich habe mich unterwegs oft gefragt, warum ich das alles mache - abends bekam ich jeweils die Antwort: Es ist ein grossartiges Gefühl, den Tag überlebt zu haben, weitergekommen zu sein, Neues gelernt zu haben, Dinge gesehen zu haben, die andere nie sehen werden. Dieses Leben macht mich glücklich. So wie andere halt in ihrem Job, beispielsweise als Bankangestellter oder Tankstellenwart, glücklich sind.

Sie haben Ihre Frau und zwei Töchter über zwei Jahre lang zu Hause allein gelassen. Kein schlechtes Gewissen?

Wir vier haben uns ein paar Mal gesehen, als sie mich im Norden besuchen kamen. Das waren dann sehr intensive Momente, die wir zusammen verbrachten. Auch haben wir so oft wie möglich telefoniert. Viele Väter sind zwar zu Hause, haben aber keine Zeit für die Kinder, sprechen kaum mit ihnen. Ich tauge nicht als Vorbild für andere Familienväter, das ist mir klar. Doch unsere Familie funktioniert nun mal so, und sie funktioniert gut.

Wie bewerkstelligen Sie die Rückkehr ins zivilisierte Leben?

Mich anzupassen, macht mir keine Mühe. Ich werde mich genau informieren, was in der Zwischenzeit geschehen ist, was ich alles verpasst habe. Als ich aufbrach, war die Welt eine andere, war noch kein Krieg im Irak, unser Alltag war nicht von Terror und Antiterror beherrscht. Hier im Norden war ich isoliert, hatte andere Probleme und war froh darüber.

Sie schwammen den Amazonas von der Quelle bis zur Mündung hinunter, umrundeten die Welt entlang des Äquators, jetzt entlang des nördlichen Polarkreises. Was kommt als Nächstes?

Ich habe ein Abenteuer im Kopf, bei dem ich alle Erfahrungen einbringen kann, die ich auf meinen bisherigen Expeditionen gemacht habe - im Dschungel, auf den Meeren, in extremer Kälte und extremer Wärme, mit Tieren und Menschen. Ich könnte mir vorstellen, die Welt als Nächstes von Nord nach Süd zu umrunden.

Sie sind 38 Jahre alt. Wie lange haben Sie noch die körperliche Kraft, solche Extrembelastungen auszuhalten?

Es ist so: Wenn man jung ist und einen Nagel in einen Baum schlägt, dann haut man mit aller Kraft drauf. Wenn man älter ist, dann lässt man den Hammer die Hauptarbeit verrichten. Die Kraft ist das eine, Erfahrung und Wissen das andere. Ich weiss jetzt, wie ich meine Anstrengungen optimieren kann.

Weiss Ihre Frau von diesen Plänen?

Die Familie nimmt an den Abenteuern teil. Meine Frau Cathy unterstützt mich moralisch und organisatorisch. Es ist ein Vollzeitjob, den sie jeweils verrichtet. Ich mache nichts ohne das Einverständnis der Familie - fast nichts.

Kaum angekommen, denken Sie ans Aufbrechen. Flüchten Sie?

Ich verstehe meine Abenteuer nicht als Flucht. Realität ist dort, wo ich mich gerade befinde. Ich denke sogar, dass ich in den letzten Monaten sehr realitätsnah und unmittelbar lebte. Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen, am eigenen Körper gespürt. Aber wenn Sie so wollen, ist das Nachhausegehen jetzt auch eine Art Flucht. Ich verlasse die Realität, an die ich mich so gewöhnt habe.

Wie stellen Sie sich Ihr Leben in zwanzig Jahren vor?

Ich werde immer Abenteurer bleiben, möchte später meine Erfahrungen dem Nachwuchs weitergeben, kleine Projekte organisieren, um Kindern die Faszination der Erde zu zeigen. Ich will die Momente, die ich erleben durfte, mit anderen teilen. Warum nicht mit dem Schiff eine Reise in den Norden anbieten, um beispielsweise die Lebensmodelle der einheimischen Inuit kennenzulernen?

Möchten Sie, dass Ihre Töchter in die Fussstapfen des Vaters treten?

Das würde mich glücklich machen, aber es liegt an ihnen, sie sollen machen, wonach sie Lust haben. Unterwegs habe ich Botschaften versteckt, deren Positionen im GPS gespeichert sind. Vielleicht machen sie sich eines Tages auf, um nach ihnen zu suchen.

Was sind das für Botschaften?

Es sind Schriftstücke, die gut verpackt sind. Darauf versuche ich ihnen zu erklären, warum mich diese Abenteuer glücklich machen. Warum ich so lange weg von zu Hause war und sie allein liess.

Kennen Sie das Gefühl der Angst?

Ich habe Angst wie andere auch. Die Angst mahnt mich stets, vorsichtig zu sein, hilft mir zu überleben und macht mentale und körperliche Kräfte frei.

Eisbären, Kälte, Meeresstürme: Wovor fürchteten Sie sich am meisten?

Davor, nicht genug zu wissen, um rechtzeitig richtige Entscheidungen zu treffen. Wissen bedeutet Überleben. Begegnete ich beispielsweise Bären oder Wölfen, musste ich an ihrem Laufstil, an ihrem Verhalten sofort erkennen können, ob sie hungrig oder nur neugierig waren, und entsprechend richtig handeln.

Wie haben Sie sich auf die Arktis-Expedition vorbereitet?

Ich habe viele Geschichten über die früheren Arktisforscher gelesen, habe mir alle greifbaren Filme über den Norden angeschaut, nächtelang mit Menschen gesprochen, die schon einmal dort waren. Ich habe mich auf Expeditionen nach Grönland und nach Sibirien an die extreme Kälte gewöhnt, das beste Material ausgewählt, die besten Menschen um mich geschart, die mich unterstützen.

Sie sagten, Sie hätten trotzdem zu wenig gewusst, als Sie aufgebrochen sind.

Ich habe mich unterwegs ständig weitergebildet, habe den Einheimischen genau zugehört, kein Detail, keine Warnung, keinen Tipp in den Wind geschlagen, habe von ihnen unter anderem gelernt, wie man ein Iglu baut, was man essen kann, was nicht, wie man denkt wie die Tiere, damit man deren Reaktionen antizipieren kann, und vieles mehr.

Wie finanziert man ein solches Abenteuer?

Dank meiner Sponsoren konnten wir für dreieinhalb Jahre ein Budget von insgesamt 1,2 Millionen Franken erstellen - die Zeit der Vorbereitung eingerechnet. Ich weiss noch nicht, ob etwas übrig ist. Ich muss mir zuerst ein Bild machen. Allein die ganze Logistik war sehr teuer.

Also sind sie nicht reich geworden.

Doch - reich an unbezahlbaren Erfahrungen. Geld brauche ich nur, um diese Erfahrungen machen und meine Familie ernähren zu können. In nächster Zeit werde ich mich mit Vorträgen über Wasser halten, über Motivation und das Leben an den Grenzen der menschlichen Möglichkeiten berichten. Es wird zudem ein Buch und einen Film geben. Und dann, ja dann muss ich mich wieder um meinen eigentlichen Job kümmern, um mein nächstes Abenteuer.


Erschienen im Facts vom 21. Oktober 2004 / Autor: Patrick Mäder

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