Mit Abenteurer Mike Horn in der Arktis


Mike Horn, der Extremsportler umrundete die Erde mehrfach.
Mike Horn, der Extremsportler umrundete die Erde mehrfach.

Eisern durchs Eis

Als Einziger geht Mike Horn zu Fuss im Winter in der Arktis auf Entdeckungstour. Drei kalte Tage begleitete FACTS den Wahlschweizer auf seiner Polarkreisumrundung.

Es ist nicht der Tag, um an den Strand zu gehen», sagt Mike Horn mit gedämpfter Stimme. Sprechen bereitet ihm Mühe, sein Gesicht ist hinter einer dicken Eismaske versteckt, nur die Augen sind vage zu erkennen. Aus ihnen spricht der Schalk. Wir sind die ersten Menschen seit fast zwei Monaten, die dem Abenteurer begegnen. Unser Erscheinen reisst ihn aus seiner Einsamkeit.

 

Offensichtlich hat Horn diesen Moment sehnsüchtigst erwartet. Von weitem schon machte er mit Leuchtraketen auf sich aufmerksam. Nun, wo wir ihn herzlich begrüssen, zittert er am ganzen Körper, weil er sich nicht bewegt, einfach dagestanden und auf uns gewartet hat. Die Temperatur beträgt minus einundvierzig Grad. Das ist saukalt, wenn man bedenkt, dass Horn nur leichte Sportkleidung trägt, um beim Laufen nicht zu schwitzen. «Schwitzen wäre mein sicherer Tod», sagt er, «weil die Feuchtigkeit in dieser Kälte sofort gefriert und meinen Körper unterkühlen würde.»

 

Seit August ist der Wahlschweizer aus dem waadtländischen Les Moulins unterwegs. Er will die Erde entlang des Polarkreises umrunden, ohne motorisierte Hilfsmittel. Vor drei Jahren hat er dieselbe Extremleistung schon entlang des Äquators vollbracht. Mike Horn ist Entdecker und Abenteurer, ständig auf der Suche nach der Herausforderung, die vor ihm noch kein Mensch angepackt hat. Ausgangspunkt seiner jetzigen Arktos-Expedition war das Nordkap in Norwegen. Von da aus überquerte er in neun Tagen den Atlantik mit dem Segelschiff, danach in fünfzehn Tagen und acht Stunden Grönland auf Ski, wobei er sich von einem Skite, einem Luftschirm, ziehen liess. Von der Westküste Grönlands plante er, per Boot Cambridge Bay im Nordwesten Kanadas zu erreichen, doch das Eis hat ihn auf halbem Weg gestoppt, in Arctic Bay, nördlich der Baffin-Insel.

 

Was nun? Aufgeben kam für Horn nicht infrage, also entschied er sich für die einzige Alternative: für einen Umweg von über 1000 Kilometern, zu Fuss, durch den arktischen Winter, in permanenter Dunkelheit. Die Inuit von Arctic Bay haben ihm von diesem Vorhaben abgeraten. Niemand geht im Winter in der Arktis auf Entdeckungsreise, schon gar nicht allein. Mike Horn ging. Meter um Meter legt er seither auf seinen Ski zurück. Acht Stunden pro Tag ist er in Bewegung. Der Schlitten, den er mitzieht, wiegt über hundert Kilo. Darin sind Gasflaschen, Essensvorräte, ein Zelt, das Skite, warme Daunenkleider, die er sich abends überzieht, ein Gewehr, ein selbst gebastelter Kocher mit Topf, ein Satellitentelefon, ein GPS (Global Positioning System) und andere nützliche Sachen. «Ich habe gelernt, was es heisst zu überleben», sagt Horn. Jean-Philippe, der für die Logistik zuständig ist, Sebastian, der als Fotograf bisher alle Projekte von Horn festgehalten hat, und ich hören gebannt zu. Mike ist seine Eismaske losgeworden und erzählt gestenreich, fast übermütig und mit kindlichem Charme. Er kann kaum erwarten, bis das Fondue, das wir aus der Schweiz mitgebracht haben, bereit ist. Seine Nasenspitze sieht ziemlich schlimm aus. Eines Morgens habe er sie nicht mehr vom vereisten Schlafsack lösen können. Er brauchte beide Hände, um sich loszureissen, dabei zog er sich die Haut ab, die am Stoff kleben blieb.

 

Vielleicht hält mich diese Geschichte davon ab, Schlaf zu finden. Meine Nasenspitze ist kalt, die Zehen taub, die Finger klamm. Die Kälte ist ungewohnt und unangenehm, auch im Schlafsack, in Daunenhose, Pullover und Kappe. Unser Atem setzt sich als Reif an der Innenwand des Zeltes fest, um im Laufe der Nacht auf uns niederzurieseln und uns weiss zu überziehen. Vor wenigen Minuten hörte ich Mike im Zelt nebenan noch singen, inzwischen schnarcht er. Mir fällt eine seiner Geschichten ein, die er beim Fondue-Schmaus erzählt hat: Südlich von Arctic Bay, im Niemandsland, löste der Gaskocher einen Brand aus. Innert Sekunden stand das Zelt in Flammen. Mike rettete sein Leben, das GPS, das Telefon und das Gewehr. Für mehr reichte es nicht. Der Abenteurer stand in Unterwäsche da, ohne Zelt, ohne Schlafsack, ohne Handschuhe, Daunenjacke, Karten, Licht. Düstere Aussichten! Per Telefon alarmierte er seinen Inuit-Freund in Arctic Bay, machte sich an den Bau eines Iglus und wartete. Nach drei Tagen haben ihn Leute aus Igloolik gefunden; im unfachmännisch gebauten Schneehaus, mit einem Lächeln im Gesicht. Also lächle ich auch, um den minus 50 Grad zu trotzen. Einschlafen kann ich trotzdem nicht.

 

Diese Kälte: ein Entkommen gibt es nicht. Es gibt keinen Ort, wo sich der Körper kurz aufwärmen kann. Mit dem Schneemobil, mit dem wir von Pelly Bay aus gekommen sind, zurückzufahren, würde Stunden dauern. Ausserdem hätte ich keine Chance, mich in der Dunkelheit zu orientieren. Ich verwerfe die Idee und beginne die Sekunden zu zählen. Bis zum Morgengrauen.

 

Mike Horn, der gebürtige Südafrikaner, liebt die Sonne. Er hat sie während der gut zweieinhalb Monate des arktischen Winters herbeigesehnt. Als sie sich dann Mitte Januar zum ersten Mal am Horizont gezeigt hatte, nur für zwei Minuten, da ballte er die Faust und jauchzte. Gerne hätte er dieses Glücksgefühl mit jemandem geteilt. Doch da war niemand. Also beschrieb er den glückseligen Moment sich selber, seinem Freund und Begleiter, dessen Rolle er übernahm. Solche Zwiegespräche führt er oft. Sein «Freund» hat ihm schon das Leben gerettet, als Mike vor Erschöpfung nicht mehr konnte, die Kälte bereits nicht mehr spürte und auf dem Schlittenrand einschlief. Da weckte ihn die innere Stimme und zwang ihn zum Weitergehen.

 

Auch mit Tieren hat er geredet. Mit einem Polarbären, diesem gefürchteten König der Arktis. Auge um Auge standen sich die beiden gegenüber. Der Weg zum Gewehr im Schlitten war zu weit und zu umständlich. Also fragte er den Bären, wer von beiden wohl schneller rennen könne, philosophierte über Freundschaft und Hunger. Bis sich der Bär gelangweilt abdrehte.

 

Horn hat ein Gespür bekommen, sich ein Frühwarnsystem angeeignet: «Ich kann die Nähe der Tiere riechen. Mein Gehör und mein Geruchssinn haben sich im Laufe der Zeit entwickelt. Ich versuche, ihr Denken und Handeln zu antizipieren.» Wenn möglich, versucht er den Tieren aus dem Weg zu gehen. Doch manchmal ist das nicht einfach. Ein Wolf ist ihm tagelang gefolgt, zwar in gebührendem Abstand, aber doch mit beunruhigender Ausdauer. Am vierten Morgen war er verschwunden.

 

Die Sonne scheint, das ist unser Glück. Doch der Wind bläst Sturm, während sich Mike Horn nach der Morgentoilette im Zelt die Ski anschnallt und sich für die 27 Kilometer bereitmacht, die er sich für diesen Tag vorgenommen hat. Ausser dem Wehklagen des Winds ist kein Laut zu hören. Die Landschaft gleicht einer leeren Leinwand. Der Raum verliert im unendlichen Weiss alle Konturen. Es ist eine eigenartige, faszinierende Welt - urgewaltig, unzivilisiert. Die Natur und wir - und sonst nichts. Oder «the basics of life», wie es Mike Horn umschreibt. Ich habe Lust auf einen Kaffee. Doch es ist mir nicht danach, die Gesichtsmaske über das Kinn herunterzuzerren, die Handschuhe auszuziehen. Aber was sind schon minus 45 Grad gegenüber den minus 62, die Mike Horn aushalten musste? Sein Kehlkopf versagte in dieser Kälte fast seine Funktion.

 

Warum tut sich Mike Horn das an? Diese Frage hört er nicht zum ersten Mal. «Abenteurer zu sein, ist mein Beruf. Ich ernähre damit meine Familie», pflegt er zu antworten. Doch das ist nicht alles. Für Horn ist das Leben zu kurz, um es zu verschlafen. «Ich möchte mir später nicht vorwerfen, verpasst zu haben, was ich im Leben eigentlich gerne gemacht hätte.» Er sei im falschen Zeitalter geboren, hätte gerne zu Zeiten der grossen Entdecker gelebt und im Wettstreit mit Kolumbus oder Vasco da Gama neue Kontinente entdeckt. Oder den Wettlauf mit Nansen, Peary, Amundsen oder Scott um die Eroberung der Pole bestritten. Doch Mike Horn lebt jetzt und tut dies intensiv. «Ich möchte meine Grenzen verschieben, scheinbar Unüberwindbares überwinden, Neues entdecken, und ich bin glücklich bei dem, was ich tue.»

 

Horn sucht das Risiko. Im angolanischen Bürgerkrieg, in den ihn sein Heimatland mit 18 Jahren geschickt hatte, lernte er zu kämpfen und zu überleben. Er war der Einzige seiner Aufklärereinheit, der lebend aus dem Dschungel zurückkam. Damals lernte er Hass und Gewalt kennen und gleichzeitig verabscheuen. Die «perversen Auswüchse der Zivilisation» sind auch ein Grund, der ihn auf Expeditionen über die Weltmeere, in den Dschungel oder jetzt in die Einsamkeit der Arktis führte, zurück zu den «basics of life», fernab von Bushs Kriegstrommeln.

 

Es ist kein Zufall, dass die Familie Horn sogar im abgelegenen Les Moulins noch abgelegen wohnt: oben am Hang, in einem bescheidenen Miethäuschen aus Holz. Bei jedem Schritt, den Mike Horn macht, kann er «sein Häuschen» sehen. Die Töchter Annika und Jessica haben es mit schwarzem Stift auf die weissen Ski gezeichnet, mit Türe, Fenstern und einem einladend rauchenden Kamin. Unter der Zeichnung steht «We love you papa» und «We miss you». Dies soll Mike jeden Tag bewusst machen, dass er auf dem Weg nach Hause ist. Auch wenn er dort erst in 15 bis 20 Monaten ankommen wird, wenn er Kanada, Alaska und Sibirien hinter sich gelassen hat.

 

Jean-Philippe zaubert eine Flasche Amarula aus dem Gepäck, einen südafrikanischen Kaffeeschnaps. Wir trinken auf meinen Geburtstag. Doch so richtig zum Feiern ist uns in dieser zweiten Nacht in der Kälte nicht. Unsere Kleider gleichen Ritterrüstungen, unsere Körper zittern. Sogar Mike sehnt sich so kurz vor dem Erreichen der Zivilisation nach einem warmen Bad.

 

In Pelly Bay wird er sich ein paar Tage aufwärmen, sein Material trocknen, jeden Morgen vier Tafeln Schokolade herunterschlingen, dazu einen Topf voll Griessbrei, um sich ein kleines Fettpolster anzuessen. Er wird seine Nasenspitze pflegen und die nächste Etappe nach Gjoa Haven planen. Ende Mai sollte er Cambridge Bay erreicht haben. Den Punkt, den er eigentlich Ende September 2002 mit dem Schiff hätte erreichen wollen. «Ich komme etwas später nach Hause», hatte er seine Frau Cathy übers Satellitentelefon wissen lassen, als ihm damals in Arctic Bay klar wurde, dass er zu Fuss einen halbjährigen Umweg in die Eiswüste in Kauf nehmen muss.


Erschienen im Magazin Facts am 20. März 2003 / Autor: Patrick Mäder

Kommentare: 0