Zu Besuch im Trainingscamp von Champion Nikolai Valuev


Valuev stellt sich meinen Fragen – bis er genug hat. Foto: Romina Amato, Blicksport
Valuev stellt sich meinen Fragen – bis er genug hat. Foto: Romina Amato, Blicksport

Der weiche Riese aus Russland

Box-Champion Nikolai Valuev (35) bereitet sich im geheimen Niemandsland auf den Kampf gegen Evander Holyfield (46) vor. SonntagsBlick war hautnah dabei. 

Auf der Landkarte liegt Kienbaum im Herzen von Europa. Von Berlin aus gesehen am Arsch der Welt. Die Strasse führt aus der Stadt raus, Richtung polnische Grenze. Es ist das Gebiet der ehemaligen DDR. Auf den letzten acht Kilometern gibt es kaum noch Häuser, nur noch Birkenbäume, welche die holprige Strasse säumen wie ehemals die Parteisoldaten.

 

Verliert sich dann die Strasse im Wald, fühlt man sich in der öden Weite Kienbaums, des früher streng bewachten und geheimen Hochleistungszentrums der DDR. Unter der Leitung des Ministeriums für Staatssicherheit wurden hier alle ostdeutschen Olympiasieger gemacht. Kein Ort für Ferien, obwohl die Naturlandschaft sich sehen lassen kann. Gerahmt von einem See für Ruderer auf der Rechten und einer Lauf- und Rennradbahn auf der Linken, stehen da verschiedene Gebäude, Wohnblocks und Pavillons und Sportstätten aller Art. Für Fussball, Tennis, Fechten, Beachvolleyball, Leichtathletik, Turnen, Boxen - eine Infrastruktur, die keine Wünsche offen lässt.

 

«Presse wollen wir hier keine», begrüsst uns der Verwalter im kleinkarierten Busfahrerhemd und den grauen Hosen. Es mieft noch immer nach DDR. Nach Kontrolle, nach Misstrauen. Die Spannteppiche sind alt und verbraucht, die Holztische bieder, die gelb gestrichenen Gipswände schreien nach neuer Farbe. Draussen ist es dunkel, ein paar Laternen kämpfen sich durch die Finsternis. Es regnet, ist kalt und unwirtlich.

 

Hier fühlt er sich wohl. Der russische Bär aus Sankt Petersburg. Nikolai Valuev, 2,13 Meter gross, 144 Kilo schwer, 35 Jahre alt. Hier ist seine Welt, die ihn an die Heimat Russland erinnert. In dieser einsamen Vertrautheit bereitet er sich auf seinen nächsten Kampf vor. Am 20. Dezember wird der WBA-Weltmeister im Schwergewicht im Zürcher Hallenstadion von Oldie Evander Holyfield herausgefordert. Würde er gegen den 46-jährigen Ex-Champion und elffachen Familienvater aus den USA verlieren, wäre ihm Spott garantiert. So weit soll es nicht kommen. Um das zu verhindern, ist er hier.

 

Trainer Alexander Zimin peitscht ihn vorwärts. Das Bild ist für die Ewigkeit. Der 1,59 Meter kleine Ex-Trainer der Sowjet-Boxstaffel neben seinem Schützling, den er stehend auch dann nicht überragt, wenn Valuev sich in den Rundenpausen auf den Stuhl in die Ecke setzt. Doch Länge ist kein Massstab für Grösse. Der erfahrene Zimin hat in wenigen Monaten aus Valuev einen neuen Boxer gemacht.

Wirkte der früher langsam, schlacksig und oft wie ein Sänger, der eine Arie in a-Moll statt in b-Dur beginnt und den kleinen Schritt in die richtige Tonart nicht schafft, ist Valuev heute flinker, koordinierter gestimmt.

 

Arthur Cook ist der Erste, der das an diesem Abend zu spüren bekommt. Vier Runden lang schlägt sich der 30-jährige Kanadier als Sparringpartner tapfer. Doch jedes Mal, wenn er für eine geplante Offensivaktion die Deckung vernachlässigt, wird er von Valuevs Jab getroffen. Hart, präzis, unerbittlich. Leo Nolan aus Detroit ist da schon vorsichtiger. Der 36-Jährige löst Cook nach vier Runden ab, weicht nur aus, geht zurück, wirkt ängstlich. «Warum soll ich meine Gesundheit riskieren?», rechtfertigt sich der fünffache Familienvater nach den drei Runden. Mutigster ist der Dritte. Der 32-jährige Harold Sconiers aus Florida boxt die Runden 8 bis 10 gegen Valuev. Aber auch er kommt nicht an den langen Armen des Russen vorbei.

 

Drei gegen einen. Trainer Zimin erklärts: «Unsere Sparringpartner haben alle wichtige Eigenschaften von Evander Holyfield. Aber nicht dieselben. Zusammen machen sie annähernd den ganzen Holyfield aus.» Je 4500 Dollar bekommen die Boxer für die drei Wochen als Trainingspartner von Valuev. Dafür nehmen sie auch die öden Tage im Niemandsland von Kienbaum in Kauf.

 

Die drei sind sich einig: Holyfield wird keine Chance haben gegen Valuev. «Ich dachte nicht, dass es so schwierig ist, gegen Nikolai zu boxen. Er ist richtig gut», sagt Sconiers, der noch im August bei Valuevs WM-Sieg gegen John Ruiz in Berlin den Vorkampf bestritt.

 

Heute ist ein guter Tag für uns. Valuev ist aufgestellt und redselig, jedenfalls für seine Verhältnisse. Er macht ein paar extra Bodenübungen für die Bauchmuskeln, grinst und grunzt ein paar nett gemeinte Worte. Er wolle dem kleinen gefiederten Spatzen, der den Weg aus der Sporthalle nicht mehr findet, Essen bringen - «morgen». Doch morgen ist sein Ruhetag. Da begnügt er sich mit einem Spaziergang in der Früh. Den Rest des Tages schläft er. Zurückgezogen in seinem zwölf Quadratmeter grossen Zimmer mit Seesicht. Darin finden sich DVDs und Bücher über die russische Geschichte.

 

Fernsehen, lesen, schlafen: So verbringt er die Stunden zwischen den Mahlzeiten und den zwei täglichen Trainings. «Zu Hause in St. Petersburg, in dieser lauten Millionenstadt», brummt er, «da ruft mich alle zwei Minuten jemand auf meinem Handy an. Da habe ich keine Ruhe. Im Vergleich dazu ist es hier paradiesisch.»

Bevor er spricht, graben sich vier tiefe Falten in seine Backen, die Oberlippe zieht sich nach oben, die Augenbraue nach unten. Er holt tief Luft. Man erwartet ein lautes Röhren, doch es kommt nur ein leises Brummen.

 

Valuev ist nicht das, was er verkörpert. Kein Monster, kein Koloss, er ist ein feinfühliger Bär, ein sensibler Mensch, der eigentlich niemanden verhauen will und am liebsten seine Ruhe hätte, sich zurückziehen würde in die russischen Wälder zum Jagen und zum Angeln. Doch Boxen ist sein Job, mit dem er gutes Geld verdient. Mit dem er seine Frau und seine zwei Kinder ernährt, sein neues Haus finanziert, das er gerade ausserhalb von St. Petersburg bauen lässt.

 

Der Morgen beginnt mit dem Frühspaziergang durch den Kiefernwald. Trainer Zimin macht Manöverkritik vom Sparring am Vorabend. Valuev muss weit nach unten blicken, hört aber aufmerksam zu und setzt die Tipps des Trainers schattenboxend gleich um. Dann prustet er, schneuzt, tänzelt. Noch einmal ein bisschen Show für den SonntagsBlick. Beim Frühstück danach ist er ein anderer, in sich gekehrt, ablehnend, gähnend. Er hat genug Promotion für den Kampf gemacht. Es reicht. Er will jetzt wieder seine Ruhe.


Erschienen im Sonntagsblick vom 30. November 2008 / Autor: Patrick Mäder

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